Die "16 Grundsätze des Städtebaus"

Vom 12. April bis 25. Mai 1950 fand eine Reise verschiedener hochrangiger Architekten und Planer der DDR nach Moskau, Kiew, Leningrad und Stalingrad statt, um in Treffen mit Kollegen und Funktionären der Sowjetunion die Grundsätze sozialistischer Architektur und Städtebau zu studieren. Daraus sollten Handlungsweisen für den Wiederaufbau in den Städten der DDR abgeleitet werden. Teilnehmer waren Kurt W. Leucht, Edmund Collein, Lothar Bolz, Walter Pisternik, Waldemar Alder und Kurt Liebknecht. Ende April war bereits die Rohfassung jener immer wieder geforderten „Grundsätze des Städtebau“ verfasst. Im Urtext waren sie in russischer Sprache formuliert und finden sich fast wörtlich in den Aussagen und Reden der russischen Vertreter wieder.

Als die „Sechzehn Grundsätze des Städtebaus“ wurden sie am 27. Juli 1950 vom Ministerrat der DDR als Grundlage der Aufbauplanung für die zerstörten Städte im Osten Deutschlands verabschiedet. Die Grundlagen und Richtschnur für die 16 Grundsätze waren sowjetische Erfahrungen. Architektur und Städtebau wurden als Medien der politischen Propaganda gegenüber dem Westen verstanden. Durch die gebauten Formen sollte eine neue Gesellschaftsordnung in sichtbaren Kontrast zu Lebensverhältnissen im Kapitalismus entstehen. Als Anforderungen an den künftigen Städtebau wurden die wichtigsten Kriterien Schönheit, Monumentalität, Bequemlichkeit, und Tradition angeführt.

Bisherige Aufbaupläne wie die für Berlin, welche nach den Leitbild der Stadtlandschaft entworfen wurden, mussten nach dem Moskaubesuch aufgeben werden. Sie entsprachen nicht den Vorstellungen der russischen Planer, wonach die Frage nach dem Zentrum, einem Aufmarschplatz, einer Aufmarschstraße und zentralen Kulturstätten im Mittelpunkt der Entwürfe standen. Moskau wurde über Nacht zum Vorbild deutscher Planungen. Die betonte Verpflichtung galt zunächst der nationalen Bautradition. Das Leitmotiv im Wohnungsbau galt der Typenprojektierung und dem Massenbau.

Grundsätze des Städtebaus

Die sechswöchige Reise bezeichnet das Ende eines Gegen- und Nebeneinanders unterschiedlicher Planungskonzepte und Architekturauffassungen. Nach der Rückkehr der Planer wurde eine Kampagne zur Orientierung am Moskauer Vorbild nach dem Leitbild der kompakten Stadt mit monumentalen Bauten eingeleitet. Die politische Propaganda wurde wirkungsvoll dem im Westen gültigen Prinzipien zur Gliederung und Auflockerung der Stadtlandschaft entgegengestellt. Dabei wird deutlich, dass die Steuerung des Baugeschehens auf zentraler, nicht lokaler Ebene lag.

  1. Die Stadt als Siedlungsform ist nicht zufällig entstanden. Die Stadt ist die wirtschaftlichste und kulturreichste Siedlungsform für das Gemeinschaftsleben der Menschen, was durch die Erfahrung von Jahrhunderten bewiesen ist. Die Stadt ist in Struktur und architektonischer Gestaltung Ausdruck des politischen Lebens und des nationalen Bewusstseins des Volkes.

  2. Das Ziel des Städtebaus ist die harmonische Befriedigung des menschlichen Anspruches auf Arbeit, Wohnung, Kultur und Erholung. Die Grundsätze und Methoden des Städtebaus fußen auf den natürlichen Gegebenheiten, auf den sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen des Staates auf den höchsten Errungenschaften von Wirtschaftlichkeit und auf der Verwendung der fortschrittlichen Elemente des Kulturerbes des Volkes.

  3. Städte »an sich« entstehen nicht und existieren nicht. Die Städte werden in bedeutendem Umfange von der Industrie für die Industrie gebaut. Das Wachstum der Stadt, die Einwohnerzahl und die Fläche werden von den städtebildenden Faktoren bestimmt, das heißt: von der Industrie, den Verwaltungsorganen und den Kulturstätten, soweit sie mehr als örtliche Bedeutung haben. In der Hauptstadt tritt die Bedeutung der Industrie als städtebildender Faktor hinter der Bedeutung der Verwaltungsorgane und der Kulturstätten zurück. Die Bestimmung und Bestätigung der städtebildenden Faktoren ist ausschließlich Angelegenheit der Regierung.

  4. Das Wachstum der Stadt muss dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit untergeordnet werden und sich in bestimmten Grenzen halten. Ein übermäßiges Wachstum der Stadt, ihrer Bevölkerung und ihrer Fläche führt zu schwer zu beseitigenden Verwicklungen in ihrer Struktur, zu Verwicklungen in der Organisation des Kulturlebens und der täglichen Versorgung der Bevölkerung und zu betriebstechnischen Verwicklungen sowohl in der Tätigkeit als in der Weiterentwicklung der Industrie.

  5. Der Städteplanung zugrunde gelegt werden müssen das Prinzip des Organischen und die Berücksichtigung der historisch entstandenen Struktur der Stadt bei Beseitigung ihrer Mängel.

  6. Das Zentrum bildet den bestimmenden Kern der Stadt. Das Zentrum der Stadt ist der politische Mittelpunkt für das Leben seiner Bevölkerung. Im Zentrum der Stadt liegen die wichtigsten politischen, administrativen und kulturellen Stätten. Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmarschplätze und die Volksfeiern an Festtagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut, beherrscht die architektonische Komposition des Stadtplanes und bestimmt die architektonische Silhouette der Stadt.

  7. Bei Städten, die an einem Fluss liegen, ist eine der Hauptadern und die architektonische Achse der Fluss mit seinen Uferstraßen.

  8. Der Verkehr hat der Stadt und ihrer Bevölkerung zu dienen. Er darf die Stadt nicht zerreißen und der Bevölkerung nicht hinderlich sein. Der Durchgangsverkehr ist aus dem Zentrum und dem zentralen Bezirk zu entfernen und außerhalb seiner Grenzen oder in einem Außenring um die Stadt zu führen. Anlagen für den Güterverkehr auf Eisenbahn und Wasserwegen sind gleichfalls dem zentralen Bezirk der Stadt fernzuhalten. Die Bestimmung der Hauptverkehrsstraßen muss die Geschlossenheit und die Ruhe der Wohnbezirke berücksichtigen. Bei der Bestimmung der Breite der Hauptverkehrsstraßen ist zu berücksichtigen, dass für den städtischen Verkehr nicht die Breite der Hauptverkehrsstraßen von entscheidender Bedeutung ist, sondern eine Lösung der Straßenkreuzungen, die den Anforderungen des Verkehrs gerecht wird.

  9. Das Antlitz der Stadt, ihre individuelle künstlerische Gestalt wird von Plätzen, Hauptstraßen und den beherrschenden Gebäuden im Zentrum der Stadt bestimmt (in den größten Städten von Hochhäusern). Die Plätze sind die strukturelle Grundlage der Planung der Stadt und ihrer architektonischen Gesamtkomposition.

  10. Die Wohngebiete bestehen aus Wohnbezirken, deren Kern die Bezirkszentren sind. In ihnen liegen alle für die Bevölkerung des Wohnbezirks notwendigen Kultur-, Versorgungs- und Sozialeinrichtungen von bezirklicher Bedeutung. Das zweite Glied in der Struktur der Wohngebiete ist der Wohnkomplex, der von einer Gruppe von Häuservierteln gebildet wird, die von einem für mehrere Häuserviertel angelegten Garten, von Schulen, Kindergärten, Kinderkrippen und den täglichen Bedürfnissen der Bevölkerung dienenden Versorgungsanlagen vereinigt werden. Der städtische Verkehr darf innerhalb dieser Wohnkomplexe nicht zugelassen werden, aber weder die Wohnkomplexe noch die Wohnbezirke dürfen in sich abgeschlossene isolierte Gebilde sein. Sie hängen in ihrer Struktur und Planung von der Struktur und den Forderungen der Stadt als eines Ganzen ab. Die Häuserviertel als drittes Glied haben dabei hauptsächlich die Bedeutung von Komplexen in Planung und Gestaltung.

  11. Bestimmend für gesunde und ruhige Lebensverhältnisse und für die Versorgung mit Licht und Luft sind nicht allein die Wohndichte und die Himmelsrichtung, sondern auch die Entwicklung des Verkehrs.

  12. Die Stadt in einen Garten zu verwandeln, ist unmöglich. Selbstverständlich muss für ausreichende Begrünung gesorgt werden. Aber der Grundsatz ist nicht umzustoßen: in der Stadt lebt man städtischer; am Stadtrand oder außerhalb der Stadt lebt man ländlicher.

  13. Die viergeschossige Bauweise ist wirtschaftlicher als die ein- oder zweigeschossige. Sie entspricht auch dem Charakter der Großstadt.

  14. Die Stadtplanung ist die Grundlage der architektonischen Gestaltung. Die zentrale Frage der Stadtplanung und der architektonischen Gestaltung der Stadt ist die Schaffung eines individuellen einmaligen Antlitzes der Stadt. Die Architektur muss dem Inhalt nach demokratisch und der Form nach national sein. Die Architektur verwendet dabei die in den fortschrittlichen Traditionen der Vergangenheit verkörperte Erfahrung des Volkes.

  15. Für die Stadtplanung wie für die architektonische Gestaltung gibt es kein abstraktes Schema. Entscheidend ist die Zusammenfassung der wesentlichsten Faktoren und Forderungen des Lebens.

  16. Gleichzeitig mit der Arbeit am Stadtplan und in Übereinstimmung mit ihm sind für die Planung und Bebauung bestimmter Stadtteile sowie von Plätzen und Hauptstraßen mit den anliegenden Häuservierteln Entwürfe fertig zu stellen, die in erster Linie durchgeführt werden können.

Quelle / Literaturtipp:

Nr. [6]